Regelung

„Krypto ist eine Insel der Stabilität, während es gefährlich wirkt, mit dem Rubel zu interagieren.“

Eine Forschergruppe spürt in Interviews nach, welche Rolle Bitcoin und andere Kryptowährungen in der Krise Russlands spielen. Dabei finden sie etwas, das in dem Land noch knapper ist als Bitcoin – nämlich Hoffnung.

Bitcoin ist mehr als ein Wertspeicher und mehr als ein Zahlungsmittel: Bitcoin ist eine Leinwand, auf die Menschen ihre Vision von der Zukunft projizieren können.

Diese Perspektive leitet ein Forschungsteam aus den Niederlanden und Großbritannien, das sich damit beschäftigt, wie Menschen in Russland Kryptowährungen verwenden. Sie haben vor kurzem das Paper „A crypto way out: cryptocurrency, technoeconomic imaginaries, and crisis in Russia“ – frei übersetzt „der Krypto-Notausgang“ – veröffentlicht, in dem sie qualitative Interviews mit 21 russischen Krypto-Usern auswerten.

Das Paper ist ungewöhnlich spannend. Nicht nur gibt es einen seltenen Einblick, wie Russen Krypto benutzen – sondern auch, was sie darüber denken.

„Die Intensivierung der Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten“

Die größte Herausforderung der Forscher war es, Teilnehmer zu gewinnen. Die meisten russischen Bitcoin-User sind misstrauisch bis zur Grenze der Paranoia und fürchten, sich durch falsche Aussagen in Teufels Küche zu bringen.

Mithilfe von Telegram-Gruppen, in denen sie Moderatoren und Mitglieder angeschrieben haben, fanden die Forscher schließlich 21 Interviewpartner.

Die Gruppe der Teilnehmer ist ziemlich divers. Sie waren bis auf zwei durchgehend männlich, der jüngste war 18, der älteste über 40 Jahre alt. Sie leben auf dem Land oder in einer Stadt, ihr Bildungsgrad reicht vom abgebrochenen Schulabschluss bis zum Doktortitel. Die Hälfte arbeitet hauptberuflich in Krypto, sei es durch Investments, als Trader oder in einem Unternehmen.

Bei der Auswertung versuchten die Forscher, die Einstellung zu Krypto in einen spezifischen Kontext des post-sowjetischen Krisenbewusstseins einzubetten. Dieses Bewusstsein war nie ganz verschwunden, selbst in den Jahren des wirtschaftlichen Aufschwungs, wurde aber durch die „Intensivierung der Beziehungen zwischen verschiedenen Staaten“ verschärft, wie einer der Teilnehmer den organisierten Massenmord in der Ukraine umschreibt, aus Furcht, zu klare Worte könnten Probleme nach sich ziehen.

„Und so beginnt man, darüber nachzudenken, wie man anders lebt.“

Grundsätzlich kamen die Interviewpartner aus pragmatischen, ökonomischen Gründen zu Krypto: Sie wollen sich vor Inflation absichern, Zahlungs-Restriktionen umgehen und neue Einnahmequellen erschließen, sei es als Job, sei es durchs Trading.

Wie ein trojanisches Pferd änderte dies aber die Einstellung der User zu Geld, zum Staat und auch zur Welt. „Die Fähigkeit von Krypto, die Perspektive der Menschen auf Wirtschaft und Gesellschaft zu verändern wurde von fast allen Interviewpartnern energisch betont.“

Da ist etwa Fjodor, ein gut 20-Jähriger, der wegen des Tradings zu Kryptowährungen fand. Für ihn war es zunächst wie ein Spiel. Doch dann kehrte er vom Militärdienst zurück und begriff, worum es wirklich ging. Er ging durch den sprichwörtlichen Kaninchenbau, Krypto wurde für ihn zur „ökonomischen Erweckung“. Er verstand, warum der Rubel gegen den Dollar an Wert verliert, wie schlecht, plump und zentralisiert das Fiat-Geldsysytem ist. Bitcoin und Krypto geben ihm die Hoffnung, dass eine dezentrale, vom Staat getrennte Alternative möglich ist.

Ähnlich drücken sich mehrere Interviewpartner aus. Igor meint, durch Bitcoin verstehe er viele historischen Ereignisse besser. Ivan, der dank Krypto sein Vermögen nach Georgien gebracht hat, findet darin „etwas Revolutionäres“, das es möglich macht, anders zu leben. „Und so beginnt man, darüber nachzudenken, wie man anders lebt.“

„Krypto zeigt, dass ich, als eine Person, Luft holen kann“

Man kennt diese Haltung von vielen Bitcoinern im Westen. Das trojanische Pferd, die orangene Pille, der Kaninchenbau – solche Wendungen sind nicht ohne Grund stehende Begriffe in der Community. Wer sich wirklich auf Bitcoin und Krypto einlässt, verwandelt sich. Doch in Russland findet dies vor dem Hintergrund eines spezifischen post-sowjetischen Krisenbewusstseins ab.

Der Krieg in der Ukraine hat dieses Krisenbewusstsein nicht geschaffen, aber gestärkt. Die letzten Jahre, erklärt Jurij, haben die Ungewissheit zur „neuen Realität“ gemacht. „Wir wissen nicht, was am nächsten Tag passieren wird. Es wird eine Bombe geben oder COVID oder was weiß ich. Wir können nur für die nächsten zehn Minuten planen, und selbst das ohne Sicherheit.“

Kirill, ein Ingenieur, erzählt: „Als jemand, der in den 90ern aufwuchs, in dem auf seine Art anarchistischen Russland, habe ich mich niemals auf den Staat verlassen, da alles, was dem Staat gehört, wie die schmutzigen Lumpen in der Schule und das Gesundheitssystem ist, in dem man sich zuerst einen Eimer Scheiße über den Kopf leeren muss, bevor man hinein darf.“ Krypto als ein „Gedanke“ zeigte ihm, „dass ich, als eine Person, Luft holen kann und von niemandem abhängig bin.“

Für Kirill ist Krypto Teil eines „techno-utopischen Werkzeugkasten“, durch das er in einer zunehmend anarchischen Zukunft selbstbestimmt überleben kann. Alexander meint, es sei „eine Art von Sicherheitsnetz“, eine, nennt es Oleg, „ruhige Oase, in die Leute ihr Geld stecken, um sich zu retten.“

„Also haben sie das Geld auf Cold Wallets transferriert und mit diesen die Grenze passiert.“

Die Forscher erkennen drei konkrete Anwendungen, wie Kryptowährungen zu dieser Oase werden, in der man den Unsicherheiten der Rubel-Ökonomie entflieht.

Erstens verliert der Rubel an Wert, während der Zugang zum Dollar stark begrenzt ist. Kryptowährungen helfen, um sich vor der Inflation zu schützen, ob als Stablecoin oder echte Kryptowährungen. „Krypto ist eine Insel der Stabilität“, sagt Alexander, „und es wirkt gefährlich, mit dem Rubel zu interagieren.“

Zweitens sind Transaktionen im Rubel-System beschränkt. Sowohl durch die internationalen Sanktionen als auch den Druck der Regierung. Kryptowährungen ermöglichen es, Geld ins Ausland zu bringen, wo zahlreiche Straßenwechsler bereits darauf warten, sie in lokale Währungen zu wechseln. Zugleich helfen sie, Geld an Verwandte zu schicken.

„Freunde von uns haben ihre Wohnung in Moskau in Panik verkauft,“ erzählt Swetlana, „und hatten dann große Mengen Geld, realisierten aber, dass sie damit nicht über die Grenze kamen. Also haben sie das Geld auf Cold Wallets transferriert und mit diesen die Grenze passiert.“

Dritten suchen viele Russen wegen der kläglichen ökonomischen Situation des Landes und den begrenzten Alternativen nach einer neuen Einkommensquelle. Diese finden sie manchmal im Handel und Investieren.

„Kein Staat kann mir etwas mir etwas per Knopfdruck wegnehmen.“

Bitcoin und andere Kryptowährungen sind in Putins Russland schon heute ein wichtiges Werkzeug für Menschen, die nach monetärer Freiheit dürsten.

Sie erlauben es, aus dem instabilen, drückenden, immer weiter einschränkenden Rubel-System zu fliehen und, für viele vielleicht zum ersten Mal, zum freien Besitzer seines Vermögens zu werden. Diese Erfahrung brachte viele der Interviewpartner dazu, auch ihre politische Einstellung weiter zu entwickeln und „die Beziehung zwischen Bürger und Staat neu zu denken“.

Da man Kryptowährungen selbst verwahren kann, entzieht man sie dem Zugriff der Regierung. Ein Beispiel: Russen, die sich der Rekrutierung für den Massenmord an Ukrainern verweigern, dürfen keine Immobilien mehr kaufen. Mit einer Wallet, erklärt Boris, „habe ich mich selbst geschützt. Kein Staat oder sonst jemand kann mir etwas mir etwas per Knopfdruck wegnehmen.“

Auch Kirill betont, wie wichtig die Selbstverwahrung ist: „Sie hilft Leuten, Grenzen zu passieren, sich nicht unter Druck setzen oder manipulieren zu lassen. Leute können ihr Geld auf eine Weise halten, die es schwierig macht, es ihnen weg zu nehmen. Das hilft ihnen, sich wohler zu fühlen.“

Es geht dabei aber nicht nur um den Staat. Mehreren Interviewpartnern ist noch gut in direkter oder indirekter Erinnerung, wie russische Banken in der letzten Finanzkrise einfach pleite gingen und die Einlagen der Kunden verschwanden. „Ich vertraue das Speichern meiner Ersparnisse keiner anderen Person an“, sagt etwa Alexander, „denn in der Geschichte von Russland gingen wir durch solche Szenarien, in denen große Finanzinstitutionen kollabiert sind und einige Zahlen auf Null fielen.“

Das wachsende Bedürfnis der Regierung, die Bürger zu kontrollieren und zu überwachen, macht zudem die Privatsphäre von Kryptowährungen für viele Russen besonders wichtig. Inwieweit sie ein Bewusstsein dafür haben, dass Bitcoin und die meisten Kryptowährungen keineswegs anonym sind, geht nicht komplett aus dem Paper heraus. Einige äußer jedoch die Sorge, dass die Regierung ihre Methoden der Blockchain-Überwachung aufrüsten wird.

Interessanterweise äußerten die meisten Teilnehmer keine stark antistaatlichen, libertären Wünsche, wie sie im Westen häufig zu hören sind, sondern hingen teilweise nationalistischen Ideen nach und unterstützen einen starken russischen Staat. Sie halten jedoch das globale politische System für ökonomisch und moralisch bankrott. Krypto ist für sie eine Art Rettungsboot, um den Sturm zu überleben, bis sich ein besseres System etabliert hat.

„Alles wird zur Hölle fahren“

Die meisten Interviewpartner blicken eher pessimistisch auf die Zukunft Russlands und der Welt im generellen. Sie erwarten einen weiteren Niedergang oder sogar den vollständig Kollaps des Systems.

Manche erklären diesen drohenden Kollaps mit den Sanktionen, der russischen Außenpolitik oder vage genannten „Militäroperationen.“ Bei den meisten jedoch beschränkt sich der Pessimismus nicht aufs eigene Land, sondern erstreckt sich auf das globale System.

Mikhail etwa sieht „die globale Ökonomie als eine Art von Blase, die bald kollabiert.“ Wladimir ist überzeugt, „dass alles zur Hölle fahren wird“ und dass „uns das schlimmste noch bevorsteht.“ Das, was derzeit in Russland passiert, versteht er als Ergebnis davon, dass der globale Kapitalismus zum Ende kommt. „Natürlich versucht der globale Kapitalismus sein Leiden zu verlängern, indem er Kriege auf der ganzen Welt entfesselt. Er versucht, die ganze Welt zu destabilisieren. Krypto ist unsere einzige Chance, dies zu überleben.“

Als Ursache des kommenden Kollapses gilt oft die Stellung des Dollars als globale Reservewährung. Während der Pandemie, beklagt Wladimir, „haben sie so viel Geld gedruckt, dass die Konsequenzen daraus sich erst jetzt langsam abzeichnen.“ Boris fürchtet sogar, dass die USA einen dritten Weltkrieg anzetteln, „um den hegemonialen Status des Dollar zu erhalten.“

Der Dollar „ist durch nichts gedeckt,“ meint Dimitrij, „doch die ganze Welt ist vom Dollar abhängig und arbeitet für den Dollar.“ Er glaubt, dass die Weltwirtschaft auf eine globale Krise zusteuert, und dass „Blockchain und Kryptowährungen darum noch populärer werden, denn in der Krise sparen die Menschen ihr Geld in Krypto als defensives Asset.“

Damit kehren tragischerweise die alten antiwestlichen und antiamerikanischen Propaganda-Narrative zurück: Das Versagen der politischen Führung im Kreml wird verschleiert, indem man dem Ausland die Schuld an dem Elend gibt, dass die Regierung von Putin dem Volk aufbürdet; die hausgemachten Widrigkeiten werden relativiert und unter den Teppich gedeckt, indem man sie in einer globalen Krise einbettet.

„Eine Alternative, um sich international zu verbinden.“

Viele Probleme möchte oder kann man erst wahrnehmen, wenn man auch einen Lösung für sie hat. So auch in diesem Fall.

Die Lösung für den Kollaps des globalen, kapitalistischen Dollar-Systems sehen die russischen Krypto-User, natürlich, in einer Kryptowährung wie Bitcoin. Diese ist nicht von einem einzigen Land herausgegeben, transparent und knapp.

Kryptowährungen werden, meint Alexander, „eine Alternative, um sich international zu verbinden.“ Andere Teilnehmer gingen noch weiter. Sie „träumten von einer Tech-Utopie, die auf einer dezentralen Architektur wie Krypto aufgebaut wird.“

Instrumente wie Dezentrale Autonome Organisationen (DAOs) können die überkommenen Institutionen des morschen Systems ersetzen, und Technologie, richtig eingesetzt, „erlaubt es der Menschheit, Probleme zu lösen, die bisher nicht zu lösen waren.“ Smart Contracts, Blockchains, DAOs, Token sind „Metaphern und Blaupausen für die Zukunft der Gesellschaft.“

Auch im Westen gibt es solche Visionen. In Russland aber gehen in ihnen möglicherweise postsowjetisches Misstrauen in den Staat mit frühsowjetischen Plänen für eine bessere Gesellschaft Hand in Hand, während zugleich der Kollaps des Systems und die Probleme, die eine staatliche Zentralisierung verursachen, schon heute viel klarer zu erkennen sind.

Krypto ist, vor diesem Hintergrund, also zugleich Rettungsboot, um sich selbst und sein Vermögen vor dem Kollaps zu retten – und gleichzeitig das Werkzeug, um danach eine bessere Gesellschaft aufzubauen.

Quelle

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